Der Durchbruch des mobilen Internets scheint nun – nachdem er bereits mindestens zwei Mal angekündigt wurde – wirklich bevor zu stehen. Nicht nur Fanboys sondern auch seriöse Auguren rechnen damit, dass in wenigen Jahren das Web häufiger und intensiver von mobilen Endgeräten genutzt wird als von stationären PCs und Notebooks. Verantwortlich dafür sind in erster Linie die modernen Smartphones – und letztendlich das iPhone, welches das Rollenmodell für die Nutzung des mobilen Internets definiert, dem die meisten Wettbewerber nacheifern. Und das am Osterwochenende vorgestellte iPad wird das Seinige tun, um ein mobiles Internet jenseits des Hosentaschenformats zu errichten.Diese Entwicklung macht das Leben auch für Unternehmen, die Inhalte auf mobilen Plattformen bereitstellen wollen, nicht leichter.
Ein interessanter Seiteneffekt dieser Entwicklung ist nämlich die Ver-Appisierung des Webs, also die Verlagerung von Funktionen aus dem standardsbasierten Web in proprietäre „Apps“, die nur noch auf den Geräten einer Systemplattform (Apple, Android, RIM, Microsoft, Palm etc.) laufen. Statt Inhalte und Services im einigermaßen standardisierten Web bereit zu stellen, müssen Inhalte-Anbieter (dazu gehört im Prinzip auch jeder Website-Betreiber) nun ein halbes Dutzend Programme für die unterschiedlichen Plattformen entwickeln (lassen) und diese dauerhaft pflegen und aktualisieren.
Dieser Trend ist nicht zu übersehen und wird nicht unbedingt von allen Marktteilnehmern positiv gesehen. Nach dem großen Erfolg des iPhones und Apples App Store geht die Angst vor Walled Gardens um, abgeschlossenen Gärten im Internet, in denen die Gerätehersteller und Plattformbetreiber bis ins Detail kontrollieren, welche Inhalte mit welchen Anwendungen konsumiert werden. Kritiker sprechen von Zensur, Gängelung, Enteignung der Anwender und befürchten, dass die Betreiber zu nahezu omnipotenten Big Brothers in ihren Gärten werden.
Andere Inhalte-Anbieter (unter anderem die Verleger) freuen sich zwar einerseits über die neue Möglichkeit, Inhalte über den App-Store kostenpflichtig anbieten zu können. Andererseits sind sie besorgt, dass Apple ihn über seine proprietären und kontrollierten Distributionskanäle die Kontrolle über die Kundenbeziehung entzieht und auch in anderen Märkten eine ähnlich starke Position einnimmt, wie im Musikmarkt.
Das sind verständliche Sorgen. Man kann den Risiken dieser Entwicklungen mit einer überlegten Strategie aber effektiv begegnen.
Dabei darf man zunächst einmal einen wichtigen Aspekt nicht außer Acht lassen:
iPhone Apps sind (auch) eine Modeerscheinung
Durch den großen Erfolg des iPhones und den extrem hohen Coolness-Faktor des Produkts ist (war?) es für viele Unternehmen und anderen Organisationen eine Zeit lang „irgendwie cool“ eine eigene App zu entwickeln und seinen Kunden/Lesern/Partnern anzubieten. Dieser Hype hat aber seinen Zenit bald erreicht, wenn nicht gar schon überschritten. So langsam bemerken Anwender, dass es nicht wirklich so extrem praktisch ist, für jede kleine Spielerei extra eine App downzuloaden und immer wieder einmal zu aktualisieren. Das fällt insbesondere dann auf, wenn die gebotene Funktionalität kaum größer ist, als die einer kleinen Website.
Auf der Gegenseite bemerken viele Anbieter, dass die Tatsache der Verfügbarkeit einer iPhone App keine bundesweit beachtete Pressemitteilung mehr ergibt. Und sie bemerken auch, dass viele ihrer Kunden gar kein iPhone besitzen und deshalb eine Android-, Palm-, Blackberry-, Ovi- oder Microsoft-Applikation ebenfalls (zusätzlich) sinnvoll wäre – und nun beginnt es, kompliziert zu werden. …
Sobald der Coolness-Faktor der Apps abgeebbt ist, werden kaufmännische Abwägungen zügig wieder einen größeren Stellenwert bekommen. Und dann wird „eine App“ nicht immer erste Wahl sein.
Web-Applikationen werden wieder interessanter
Wer sich die Situation nüchtern betrachtet, wird rasch die gute alte (neue) Website als eine interessante Alternative entdecken. Das gilt umso mehr, wenn man sich einmal genau anschaut, was eine Web-Applikation auf einem guten Browser heute leisten kann. Einige dieser Anwendungen sind – bis auf die Tatsache, dass am oberen Bildschirmrand eine Adresszeile steht – kaum von einer „echten App“ zu unterscheiden. Mobile Browser auf WebKit-Basis – und grundsätzlich das kommende HTML5 – sind tatsächliche eine sehr mächtige Plattform für die Entwicklung interaktiver Applikationen – und bieten Zugang zu allen wichtigen Features der mobilen Endgeräte (Location, Bewegungssensoren etc.) Googles GMail ist ein exzellentes Beispiel dafür. Dessen Web-Frontend für das iPhone ist in mancher Hinsicht besser als der eingebaute Email-Client.
Ich will damit nicht sagen, dass es keine Funktionalitäten gibt, die man nicht viel besser als App umsetzen kann. Da gibt es tatsächlich viele. Irgendwann wird JavaScript zu langsam und der umgebende Browser schränkt zu sehr ein. Das gilt für Games, das gilt für Augmented-Reality-Anwendungen, das gilt für anspruchsvolle Productivity-Apps und vieles mehr. Aber die überwiegende Mehrzahl der heute verfügbaren Apps ließe sich genauso gut und (unter Nutzung der neuesten Browser-Generationen) genauso sexy im Web umsetzen. Und, da das auf Dauer deutlich kostengünstiger ist, habe ich wenig Zweifel daran, dass das auch passieren wird – in unterschiedlichen Varianten.
Tatsächlich kann ich Unternehmen, die Applikationen und Services für das mobile Internet (und das wird in Kürze das größte Territorium des Internets sein) planen, nur raten, ihre Strategie sehr sorgfältig zu entwickeln. Es gibt gute Gründe für die Entwicklung proprietärer Apps, aber auch gute Gründe für die Nutzung des mobilen Webs (auf HTML-Basis). Und es gibt clevere Möglichkeiten, seine Inhalte und Services, plattformneutral im Netz zu halten und über kleine, schlanke, unaufwendig zu entwickelnde Apps auf einer Vielzahl von Plattformen anbiete zu können.
Das Dümmste, was ein Unternehmen in der aktuellen Situation tun kann, wäre es, sich mit hohen Entwicklungsaufwänden an eine Plattform zu binden, egal, ob sie von Apple, Google, Microsoft, RIM oder Nokia betrieben wird.
Eine nachhaltige Strategie für das mobile Web
Eine Erfolg versprechende Strategie für das mobile Web sieht anders aus. Und sie hat wenig damit zu tun, „den Gewinner“ zu identifizieren und frühzeitig auf das richtige Pferd zu setzen. „Das richtige Pferd“ gibt es nicht. Keine der konkurrierenden Plattformen wird über die nächsten 3 – 5 Jahre hinweg eine marktbeherrschende Stellung erreichen.
Eine wirklich zukunftsweisende Strategie für das mobile Web muss zwei Ziele haben:
- Minimierung der Abhängigkeit von einzelnen Systemplattformen
- Maximierung der Reichweite für die eigenen Angebote (Inhalte und Services)
Ausnahmsweise – und anders als bei den meisten Strategien mit zwei Zielen – sind diese Ziele nicht widerstreitend, sondern ergänzen sich sogar. Auf welchen Wegen kann ich mich nun diesen Zielen nähern? Das lässt sich recht leicht mit Hilfe der folgenden 4 Prüfsteine ermitteln.
1: Sorgfältige und ehrliche Prüfung der tatsächlichen Zielgruppe und ihrer Bedürfnisse und Interessen. Wie aktiv ist diese Zielgruppe tatsächlich (heute) auf mobilen Endgeräten. Ist ein echter Bedarf da? Macht es Sinn, auch bei geringem Bedarf mobile Versionen bereit zu stellen, um Claims abzustecken und Markteintrittsbarrieren für Wettbewerber aufzustellen?
2: Objektive Bewertung der Frage, ob eine App für Anwender aus dieser Zielgruppe einen echten Vorteil bringt. Wir beispielsweise die maximale Geräteleistung für komplexe grafische Darstellungen benötigt? Ist Offline-Betrieb mit großen Datenmengen notwendig? In vielen Fällen erfüllt eine web-basierte Applikation die Anwenderbedürfnisse genau so gut wie eine „App“ – und läuft auf einer Vielzahl von mobil
en Endgeräten.
3: Analyse der möglichen Refinanzierungsmodelle. Ein großer Vorteil von Apps ist es, dass sie payed-content Modelle recht einfach ermöglichen. Zahlungsmodelle für nicht-physische Güter im Web umzusetzen ist nicht einfach und oft für den Anwender unkomfortabel.
4: Hybride Ansätze prüfen. Ergibt einer der vorangegangenen Prüfsteine, dass die Entwicklung eine App sinnvoll ist, sollte unbedingt geprüft werden, ob es nicht möglich ist, einen Großteil der Intelligenz (der sogenannten „Businesslogik“) und der Inhalte auf einem Webserver zu lagern und die App lediglich als Frontend zu nutzen. Auf diese Weise ist die Entwicklung einer Vielzahl von Apps (für die unterschiedlichen Plattformen), relativ unaufwendig, da diese eher simple sind. Die zentral im Web bereit gestellten Inhalte und Funktionalitäten machen zudem die Aktualisierung einfacher.
FAZIT: Eine „echte, native App“ ist nur dann zu entwickeln, wenn es weder möglich ist, die benötigte und gewünschte Funktionalität mit einer Web-Oberfläche zu realisieren, noch, deren Intelligenz und Inhalte im Web zu halten.
Nochmals: es gibt eine Vielzahl von Anwendungsfällen, bei denen eine „echte App“ Sinn macht. Allerdings treffen die oben genannten Kriterien auf mehr als 80% der heute von Unternehmen bereit gestellten iPhone–Apps nicht zu.
Eine nüchterne Überprüfung der tatsächlichen Anwender- und Unternehmensbedürfnisse sowie die Verlagerung von Inhalten und Funktionalitäten aus den Apps auf Web-Server reduziert die Abhängigkeit von Plattformanbietern – die ja alle ihre eigenen strategischen Ziele verfolgen – und maximiert die Reichweite in der eigenen Zielgruppe bei gleichzeitiger Minimierung der notwendigen Entwicklungsaufwände.